Frei entscheiden können, wofür die eigene Arbeitszeit und -kraft eingesetzt werden soll. Das können Leute, die finanziell unabhängig (FI = Financial Independence) sind. Es gibt eine ganze Subkultur, die sich dem Thema FIRE verschrieben hat, indem sie sich zusätzlich noch mit vorzeitigem Ruhestand (RE = Retire Early) beschäftigen. Dabei ist Ruhestand nicht wörtlich gemeint, sondern im Sinn von „das tun was Freude macht, auch wenn es nicht viel Geld einbringt“.
Ich bin irgendwann mal auf dieses Thema gestossen und seither lässt es mich nicht mehr los, wohl weil es so stark in mir resoniert. In Podcasts wird häufig erwähnt, dass Personen oft zufällig entdecken, dass es einen Begriff für ihre Lebensweise gibt, die eine Mischung aus Gegen-den-Strom-schwimmen, Frugalismus, Minimalismus, Life-Hacking oder Sparsamkeit ist. Es gibt dazu viele Blogs, Podcasts und andere Kanäle, von welchen ich am Ende einige kurz erwähnen möchte.
In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, welcher Weg mich zu diesem Thema geführt hat.
Ich war wohl immer etwas sparsam. In eine Familie von Bankangestellten hineingeboren und mit Sparschwein aufgewachsen, rührte ich meine Sparbatzen kaum je an und brachte sie pflichtbewusst zur Bank. Dort wurden sie mit Schreibmaschine und später mit Matrixdrucker ins Sparbüchlein eingetragen und in den 70-er und 80-er Jahren mit 4-5% Zins belohnt.
Die wundersame Geldvermehrung lernte ich auch durch Schilderungen meines Vaters kennen, der von Börsengängen sprach, wo Kunden auf einen Schlag 30% Gewinn machen konnten. Flinke Bankangestellte mit Insiderwissen konnten beim Kollegen in der Börsenabteilung eigene Deals platzieren, bevor danach das grosse Kundengeschäft den Markt in Bewegung brachte. Natürlich wurden derartige Mätzchen inzwischen aufgeräumt, doch haben solche Schilderungen meine jugendliche Phantasie beflügelt und mich empfänglich für die von FIRE-Enthusiasten gepredigten Wertpapierinvestitionen gemacht
Mit 15 Jahren machte ich mich im Gymnasium für eine Arbeitswoche zum Thema „Wirtschaft und Geldkreislauf“ stark und arbeitete nebenbei in einem Laden, wo es Kleinmengen an Pelzzubehör abzupacken galt. Haken, Ösen und Kragenband sind mir noch in bester Erinnerung. Damals war es ein unglaubliches Erlebnis, meine Lebenszeit in Geld umtauschen zu können. Das war meine kleine finanzielle Unabhängigkeit von meinen Eltern. Nur wenig später trieb ich meine Unabhängigkeit auf die Spitze, indem ich in den Ferien im Schreinereibetrieb des Vaters meines besten Freundes arbeitete und wir uns mit dem Geld und ohne Wissen meiner Eltern eine Motocross-Maschine kauften. Wir waren erst 16 Jahre alt und hätten noch 2 Jahre warten müssen, bis wir das Motorrad legal hätten fahren dürfen. Aber das Ding war eh‘ nicht für die Strasse gebaut und so vergnügten wir uns im Gelände. Das war dann die grosse finanzielle Unabhängigkeit meiner Teenagerjahre.
Als ich danach ins Austauschjahr nach Thailand gehen durfte, konnte ich andere Arten von Unabhängigkeit ergründen und die grosse Freiheit leben, obwohl ich in Gastfamilie und Schulsystem eingebunden war. Bereits nach wenigen Monaten Schule machte ich der Schulleitung den Vorschlag, mich halbtags vom Unterricht zu dispensieren. Zu meiner grossen Überraschung wurde das genehmigt. Mein erster Lifehack!
Ein weiteres Erlebnis konnte ich 1984 aus Thailand mitnehmen: wieviel ein Schweizerfranken in diesem Land Wert war. Mein Verständnis für globale Kaufkraftunterschiede war geweckt!
Zurück in der Schweiz erledigte ich den Rest des Gymnasiums und konnte im Abschlussjahr meine Ersparnisse massiv aufbessern, als ich in einem Wettbewerb 1000 Franken gewann. Nie hätte ich damals an der Macht eines soliden Sparbatzens gezweifelt.
Im Studium ging es weiter mit der Faszination Geld verdienen. Zur Blütezeit hatte ich drei Teilzeitjobs gleichzeitig: Plakate aufhängen, Verkehrszählungen durchführen und als technischer Zeichner wissenschaftliche Publikationen aufpeppen. Der Grund dafür war ein Autounfall, in den ich als Fahrer eines fremden Autos verwickelt war. Bis die Rechtschutzversicherung den anderen Fahrer als Schuldigen identifiziert hatte, hatte ich 8’000 Franken auf dem Konto und fühlte mich Mitte Studium richtig reich. Da es mich wieder ins Ausland zog, konnte ich damit ein Auslandjahr mitfinanzieren.
Noch immer hatte ich nichts dazugelernt und begann mein Arbeitsleben mit einem positiven Kontostand. Wenn ich heute Konversationen mit 30 Jahre jüngeren Leuten führe, dann kommt glasklar zum Ausdruck, dass es keinen Sinn macht, in jungen Jahren zu sparen. Der Zins ist bei Null, der Studentenlohn vergleichsweise gering und die Eltern haben ja schliesslich Geld. Obwohl die FIRE-Bewegung davon spricht, keine Schulden zu machen bin ich mir nicht sicher, ob das in einer Tiefzinsphase nicht doch Sinn macht.
Bereits nach 6 Jobjahren konnten sich meine Freundin und ich gemeinsam ein Haus leisten, wofür wir 180’000 Franken Eigenkapital zur Verfügung hatten. Das hatte auch damit zu tun, dass wir vergleichsweise bescheiden lebten, kaum in Restaurants essen gingen, sie kein Alkohol trank, wir Vegetarier und Nichtraucher waren, uns ein Occasionsauto teilten und kostengünstige Ferien machten. Doch pro Person und Jahr 15’000 Franken zu sparen, entsprach lediglich einem Viertel unserer Einkünfte und verblasst gegenüber den Extremisten der FIRE-Szene, die bis zu 80% ihrer Einkünfte zur Seite legen können.
Weil das Haus einen grossen Nebenraum hatte und weil wir inzwischen geheiratet hatten, kombinierte meine damalige Frau die beiden Dinge und begann eine selbständige Tätigkeit mit Kommissionsverkauf von Secondhand Brautmode. So was nennt die FIRE Community „Side Hustle“.
Dies unterstützte ich mit meinen am Arbeitsplatz erworbenen Fähigkeiten im Web Design, die ich noch um Suchmaschinen- und Online-Marketing erweiterte. Als uns diese erfolgreiche Nebenbeschäftigung über den Kopf wuchs, verkauften wir das Geschäft erfolgreich.
Es gab eine Zeit vor und eine nach der Geburt unseres Sohnes. Als Doppelverdiener ohne Kind wuchs unser Vermögen rasch und Ausgaben im normalen Rahmen führten nie zu Diskussionen. Mit Kind entschieden wir beide, das Arbeitspensum zu reduzieren, wodurch wir bei mehr Ausgaben nun weniger Cashflow hatten. Wir schnallten unsere Gürtel etwas enger und dank Lohnerhöhungen sowie Nebenverdienst stiegen die Ersparnisse wieder an. So sehr, dass wir uns ein Ferienhaus kaufen konnten, als in den Bergen keine gemütliche Ferienwohnung mehr zu mieten war.
WIE BITTE??? fragst du jetzt wohl. Tja, so Geschichten kann nur das Leben schreiben. Meine Gattin sah ein Inserat, das Wetter bei der Besichtigung war wunderschön und die Landschaft auch und obwohl wir vorher noch nie in diesem 100-Seelendorf waren, hat es uns auf Anhieb gefallen. Finanziell konnten wir uns 25’000 Franken Eigenkapital leisten und mit zwei 80%-Löhnen war die Tragbarkeit auch für diese zweite Hypothek gegeben. Ferien anderswo lagen jetzt nicht mehr drin.
Alles lief hervorragend, bis uns die Schreckensbotschaft erreichte, dass wir beide den Job verlieren würden: Unser gemeinsamer Arbeitgeber teilte uns dies in der selben Woche mit, obwohl wir in unterschiedlichen Bereichen arbeiteten. Jung wie wir waren, ging es nicht lang, bis neue Jobs gefunden waren. Doch der Schock sass mir in den Knochen. Die Aussicht, beim Arbeitsamt regelmässig Rechenschaft über meine Arbeitssuchbemühungen abgeben zu müssen, standen im Gegensatz zu meinem Freiheitsdenken. So kam der Wunsch auf, einen Jahresbedarf zu sparen, um unabhängiger zu sein. Die FIRE Community nennt so was Emergency Fund. Das gelang mir in der Folge nach einigen Jahren, denn wir konsumierten weiterhin relativ bescheiden.
Mein Wunsch nach der grossen weiten Welt konnte ich im Job befriedigen, indem ich einen Kurzzeiteinsatz von 6 Monaten in Singapur machen konnte. Wohnraum und Flüge waren bezahlt und im Short-term Assignmentvertrag erhielt ich sogar noch Taggeld, mit welchem ich das Leben im Ausland ohne jegliche finanziellen Einschränkungen aus vollen Zügen geniessen konnte. Rückblickend etwas zu sehr, denn meine Ehe zerbrach daran. Midlife-Krise mit 40 könnte man dazu auch sagen.
Ich entschied mich nach der Trennung erneut zum Einsatz in Singapur, wo ich dieses Mal einen Expat-Vertrag kriegte, doch gleichzeitig meiner Ex-Frau das Leben finanzieren musste, da sie gerade arbeitslos war. Das kostete eine Stange Geld. Ich habe mich damals entschieden, nicht mehr Geld auszugeben, als mir pro Monat zur Verfügung stand. Dies war das erste Mal in meinem Leben, wo ich den Monatslohn restlos aufbrauchte und mich dabei massiv einschränken musste. Was mir jedoch zugute kam, war die grosse Wohnung, die ich teilweise untervermieten konnte. So lernte ich AirBnB nutzen. Fortan erlaubte mir das leicht verdiente Zusatzeinkommen, Wochenendtrips zu machen und in die Schweiz zu fliegen, um meinen Sohn zu sehen. Schon wieder ein „Side Hustle“.
Mit der Scheidung kam die Zeit für eine Abrechnung. Dank ähnlichen Vorstellung einigten wir uns auf eine Einmalzahlung, die durch die Trennung unserer Güter finanziert wurde. Dank der Wertsteigerung unserer beiden Häuser erhielt ich bei der Scheidung sogar noch Geld. Damit war das Leben meines Sohnes für 12 Jahre finanziert und ich konnte wieder auf eigene Rechnung arbeiten,
Zurück in der Schweiz miete ich eine Penthousewohnung in einer etwas lärmigen Geschäftsliegenschaft, die wohl 500 Franken pro Monat günstiger war, als eine Wohnung ohne störende Geräusche. Danach benutzte ich wieder AirBnB, um ein möbiliertes Zimmer zu vermieten, was etwas mehr als die Hälfte der Miete reinbrachte. (und mich davor bewahren sollte, ein komischer Einzelgänger zu werden 🙂 Den grössten Kostenblock hatte ich damit gut im Griff. Wäre da nicht die neue Fernbeziehung nach Singapur gewesen, hätte ich wohl 10’000 Franken pro Jahr zusätzlich sparen können. Immerhin erlaubten mir AirBnB-Einkünfte erneut, 6 Flüge jährlich nach Singapur zu finanzieren und meine Kosten zu senken. Noch immer hatte ich keine Ahnung von der FIRE Community.
Das änderte sich erst, als ich verschiedene Kollegen mit ungewöhnlichen Lebenssituationen kennengelernte hatte. Da war derjenige, der auf einem Berggipfel lebte und verschiedene Jobs hatte. Ein anderer hatte den Job gekündigt, um einfach mal lang zu reisen, bevor er eine selbständige Tätigkeit aufnehmen wollte. Einer hatte sich als Autor und globaler Keynote Speaker selbständig gemacht und war nach Singapur gekommen auf der Suche nach Partnerin und einem passenden Wohnort. Einer mit Familie hat sich dank Immobilien-Investment in Singapur ein neues Leben in Japan leisten können. Eine andere Kollegin war zur zeitlich unbefristeten Weltreise aufgebrochen, nachdem sie schon vorher den Traum realisiert hatte, Safari-Ranger zu werden. Ein befreundetes Paar meldete sich aus der Schweiz ab, um sich nach zwei Jahren in Zentralamerika niederzulassen. Immer mehr Puzzleteile fügten sich zusammen, bis ich das Thema „Selbst-Management“ identifizierte. Wie kann ich erkennen, was ich will und dieses Ziel diszipliniert erreichen? Wie kann ich mich von gesellschaftlichen Konventionen lösen? Daraus ist eine Faszination für das Thema „Resilienz“ geworden. Wie stecken wir Schicksalsschläge weg und bereiten uns für die Ungewissheit vor? Finanzielle Unabhängigkeit ist nur ein kleiner Teil davon.
Vor einem Jahr konnte ich eher zufällig feststellen, dass ich eigentlich finanziell unabhängig bin, wenn ich an einen günstigeren Ort als die Schweiz lebe (die FIRE-Leute nennen das „geo arbitrage“). Ein entsprechendes Experiment mit Kündigung meines gutbezahlten Jobs, Wegzug ins Ausland und Versuch des Vorruhestandes hat mich allerdings davon überzeugt, dass ich wirklich gerne arbeite und mir Kontakt zu anderen Menschen wichtig ist. Somit kommt eine Tätigkeit in den eigenen vier Wänden für mich nicht in Frage. Zudem ist mein momentaner Wohnort Luxembourg aufgrund der hohen Kosten nicht wirklich FIRE-tauglich.
Weiterführende Links
- Zentraler Hub für FIRE-Thema in Europa
- Financial Independence: Podcast in Europa
- Mustachian Post: Schweizer Quelle für FIRE mit Forum
- Mr. Money Moustache: USA Quelle
- Early Retirement Extreme: Der Gründer
- Nomadlist: Luxembourg für globale Digitalnomaden
- Primal Matrix: mein weiteren Artikel zu Resilienz und Survival
Photo: Sebastien Wiertz on Flickr
